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Zigarettenrauchschwaden hängen schwer in der zwielichtigen Luft,
halbseidene Gesellen mit frostigen Mienen sitzen an einem Tisch und beäugen den schweißstirnigen Typen vor Kopf. Vom anderen Ende des Tisches tönt es heiser: »Schlechte Karten, mein Freund. Du bist blank. Wie lautet dein Einsatz?« … »Mein Haus, mein Pferd, der Familienschmuck, die amerikanische Verfassung von 1787 mit den Originalunterschriften von Washington, Franklin und Hamilton.« – »Das soll alles sein?« – »Nein, nein … Nachrichten von Elvis Presley aus dem Jenseits und sein Glitzer-Overall aus Aloha from Hawai, ein Aufsitzrasenmäher, der Sparstrumpf unter dem Kopfkissen …« Die Liste wird länger und länger, der Morgen graut, ein abgebrannter Typ schleicht mit gesenktem Haupt aus dem Etablissement namens »Paradies«. Alles gegeben, alles verloren – bis auf den Glückspenny seines Großvaters in der rechten Hosentasche und einer Muschel von der West Coast in der linken.
Zur selben Zeit an anderen Orten der Welt wahrscheinlich: Kapitalanlage-Beratungsgespäche in örtlichen Sparkassenfilialen, Seminare zur Selbstoptimierung mit Titeln wie »Erfolg auf der ganzen Linie«, Vorträge zum Thema Work-Life-Balance, Yoga-Kurse für Führungskräfte …)
Als Theo Bübel das Kino verlässt, geht ihm das Poker-Drama noch einmal durch den Kopf. Er schüttelt selbigen, steigt in die Linie 96 ein und fährt Richtung Oberhausen-Eisenheim. Er betritt den heimischen Taubenschlag und berichtet von seinem Abend im Lichtspielhaus und dem immens aufregenden Film. Das gurrende Gefieder antwortet mit den wildesten Geschichten des Tages. Wer wem am Futtertrog in die Quere gekommen ist, dass der Habicht gefährlich über dem Viertel gekreist ist und dass man wirklich froh ist, dass Theo wieder den Weg nach Hause gefunden hat.
Am folgenden Tag: Taubenwettflug.
Es weht ein laues Lüftchen, der Himmel ist blau und wolkig weiß marmoriert. Theo Bübel hat die vier erfahrenen Preisträger und zwei junge Talente behutsam in Kisten verfrachtet. Die Kisten fährt er auf dem Anhänger seiner über Jahrzehnte gepflegten Kreidler Florett zur Reisevereinigung »Sterkrade 08«. Von dort geht’s für die sechs Sportskanonen in Richtung Norden und für Theo wieder gen Zechenhaus. Er ist einigermaßen siegessicher. Schließlich hat er die gefiederten Freunde aufs Beste vorbereitet mit Kartenmaterial von der Lüneburger Heide, mit einem Diavortrag über eigene Reisen (mit der Kreidler) und motivierenden Reden über legendäre Preisflüge der letzten drei Jahrzehnte. Ab 15 Uhr beobachtet er den Horizont mit geschultem Blick. Ab 15:25 Uhr kündigen sich die Heimkehrer als schwarze Punkte vor weißen Wolken an. Wenige Minuten später sind alle wieder im Schlag, wohlauf und bestens gelaunt. Theo hält eine Dankesrede und dass er sich freut, dass alle den Weg nach Hause gefunden haben. Die Tauben berichten von ihrer rasanten Reise. Zur Feier des Tages gibt es eine Extraportion Spezialfutter (eigene Geheim-Mischung).
Zur selben Zeit an anderen Orten wahrscheinlich: Kapitalanlage-Beratungsgespäche in örtlichen Sparkassenfilialen, Seminare zur Selbstoptimierung mit Titeln wie »Erfolg auf der ganzen Linie«, Vorträge zum Thema Work-Life-Balance, Yoga-Kurse für Führungskräfte, omnipotente Business-Jungs, die ihre vielen Laufkilometer und Kreisstrecken auf Facebook posten … und ein Typ, der alles gibt und alles verlieren wird.
Braucht jemand eine Moral von der Geschichte? Ja, echt? Hmmm … das wäre ein Alarmsignal und wir würden in besonders schwierigen Fällen evtl. die Telefonnummer von Theo Bübel rausgeben. Obacht: Er geht selten dran.
Musiktipps bei der Gelegenheit: »Kriminaltango« in der Fassung des Hazy-Osterwald-Sextetts, »Big Yellow Taxi« von Joni Mitchell (»Don‘t it always seem to go that you don‘t know what you‘ve got ‘til it’s gone«), »La Paloma« von Hans Albers, »Once in a lifetime« von den Talking Heads Filmtipps bei der Gelegenheit: »Taubenliebe« und »Die Helden von Eisenheim« (beide von Werner Kubny)