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Memetik oder wie entsteht Meinung

22. September 2016

»Ich probiere Meinungen an, so wie ich Kleider anprobiere« so Ronja von Rönne – und sie kokettiert mit der Ernsthaftigkeit, die das Thema Meinung umweht. Denn jeder hat eine Meinung und wir halten unsere eigene für besonders wahr, richtig und wichtig. Aber wie kommt Meinung eigentlich zustande? Sind wir die Urheber, haben wir die Hoheit über unsere Meinungen? Oder werden wir fremdgesteuert durch die Medien (Meinungsmacher, Lügenpresse) ? Die Memetik sagt nein, weder noch, und sieht uns alle als unbeteiligte »Wirte« von Memen, sprich: kulturellen Informationseinheiten, die im Wettbewerb um das eigene Überleben und ihre Reproduktion kämpfen. Dieses Begriffsmodell entspricht der Genetik. Wo die Gene für die Weitergabe der eigenen Erbinformation sorgen (Hardware), bringen Meme die Kultur in eine Evolutionsdynamik (Software): Survival of the fittest gilt auch für Ideen, Gedanken, Werte, Melodien, Glaubenssätze und Vorlieben. Besonders erfolgreiche Meme werden also in höherem Maße verbreitet (reproduziert), als weniger gut angepasste. So betrachtet, haben wir keine Meinung, sondern die Meinung hat uns: Wir wurden von einem erfolgreichen Memplex (Gruppe von Memen) »befallen« und tragen durch weitererzählen, liken, verlinken und retweeten zur weiteren Verbreitung bei.

Natürlich sind diese Prozesse nicht wörtlich zu nehmen, das machte schon der Meme-Entdecker Richard Dawkins im Titel seines Buches The selfish Gen (Das egoistische Gen) aus dem Jahr 1976 deutlich. Ein Gen ist nicht wirklich egoistisch, ihm ist es völlig egal, ob es sich fortpflanzt, so wie es einer Melodie egal ist, ob sie sich in den Köpfen der Menschen als Ohrwurm einnistet. Aber es erscheint egoistisch, im Sinne von »getrieben durch den Willen zum Überleben«. Die Analogie zwischen Genetik und Memetik funktioniert – so gesehen haben Mendel (Vererbung) und Darwin (Evolution) zusammen ein Grundprinzip entdeckt, das über die Biologie hinaus Anwendung findet und ein besseres Verständnis für die Entwicklung von Kultur ermöglicht.

Ob wir selbst empfänglich für ein spezifisches Mem sind, hängt nun wiederum mit den schon vorhandenen Memen zusammen, das erklärt auch, warum wir manchmal das Gefühl haben, unser Gegenüber kann oder will unserer Argumentation einfach nicht folgen. Die Erklärung ist schlicht: Da hat jemand einen komplett anderen Mempool. Nun ist es nicht sinnvoll, dem Gegenüber die fehlende Kompatibilität übel zu nehmen, wir können alle nicht anders als zu meinen, was wir meinen. Es ist weder auf Bosheit noch auf fehlende Rationalität zurückzuführen, sondern schlicht auf die abgespeicherten Erzählungen in unseren Köpfen. Genauso wenig, wie sich der biologische Organismus seine Gene aussuchen kann, können Menschen ihre Meme frei wählen, sie denken, meinen und handeln aufgrund eines inneren Determinismus’, der außerhalb ihres direkten Zugriffs liegt. Meinungsfreiheit heißt, seine Meinung frei äußern zu können, aber wir können sie eben nicht frei wählen. Lange vor den Neuromarketing-Apologeten wusste schon Schopenhauer: Der Mensch kann zwar tun, was er will, er kann aber nicht wollen, was er will.

Für den Designprozess ist dies ein Dilemma, denn wenn schon dem eigenen Ich das »Wollen« ein Rätsel ist, wie soll der externe Designer wissen können, welche Meme im Mempool der Zielgruppe vorausgesetzt werden können? Für die systematische Erkundung steht Designern heute ein gut gefüllter Werkzeugkoffer zur Verfügung: Personas (fiktive Figuren mit Alter, Namen, Lebenssituationen usw.), Limbic maps (»Landkarten der Gefühle«), Customer journeys (»Wie bewegt sich der Kunde durch die Kontaktpunkte eines Unternehmens?«) sind typische Tools, um das unbekannte Mindset kennenzulernen, zu verfeinern und zu dokumentieren. Natürlich bleiben auch diese Methoden stets fuzzy, aber sie bündeln Hard Facts und Intuition zu einer belastbaren Datenbasis. Erst wenn diese (»Discovery«-)Phase abgeschlossen ist, kann der eigentliche Designprozess beginnen. Bei später auftauchenden Fragen kann der Designer immer wieder auf diese Grundlage zurückgreifen und findet so – immer seine Personas im Blick – Lösungen für maßgeschneiderte Markenerlebnisse.

Übrigens: Viele kennen den Begriff der Memes durch lustige Internetbildchen (»lolcat«) aus Reddit, 4chan, Twitter, u. a. Die Schrift, die in Sachen Memes eine steile Karriere gemacht hat, heisst Impact. Sie ist schmal, fett und plakativ, wird immer in weiß mit schwarzer Outline eingesetzt und hat die Kraft, einem schlechten, unruhigen Foto zu einem langen, erfolgreichen Mem-Leben zu verhelfen. Der User sieht sofort: Hier kommt ein Mem, bitte weitersagen.

Quellen:

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-135692236.html
Richard Dawkins: Das egoistische Gen. Springer Spektrum, 2. Auflage, 2014
Michael Schmidt-Salomon: Jenseits von Gut und Böse. Piper Verlag, 2012
Hans-Georg Häusel (HRSG.): Neuromarketing. Haufe Verlag, 2008

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